Barrierefreiheitsstärkungsgesetz - BFSG
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet Unternehmen dazu, Produkte und Dienstleistungen schrittweise barrierefrei zu gestalten. Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu digitalen und physischen Angeboten zu ermöglichen. Das Gesetz setzt die Anforderungen des europäischen European Accessibility Act (EAA) in deutsches Recht um.
- Relevanz & Anwendungsbereich („Use Cases“)
- Grundlagen & Gesetzlicher Zweck
- Betroffene Produkte & Dienstleistungen
- Definition von Barrierefreiheit & Zielgruppen
- Ausnahmen & Sonderregelungen
- Pflichten von Dienstleistungsanbietern (§ 14 ff.)
- Pflichten bei Produkten (Hersteller, Einführer, Händler – §§ 6–13)
- Übergangsfristen (§ 38)
- Marktüberwachung und Kontrolle
- Verbraucherrechte & Verfahren
- Sanktionen & Risiken
- Unterstützung & Beratung
- Technische Standards / Normen
Relevanz & Anwendungsbereich („Use Cases“)
Hauptanwendungsbereiche
-
E-Commerce / Online-Shops (§ 1 Abs. 3 Nr. 5)
Online-Handel, Buchungsportale, Vergleichsportale, also alle webbasierten Dienste, über die Verbraucherverträge abgeschlossen werden. -
Bank- / Finanzdienstleistungen (§ 1 Abs. 3 Nr. 3)
Online-Banking, Payment-Apps, Finanz-Apps, Zahlungsdienste für Verbraucher. -
Mobile Apps
Apps für oben genannte Dienste — sowohl Web- als auch native Apps zählen. -
Ticketing / Personenbeförderung (§ 1 Abs. 3 Nr. 2)
Digitale Komponenten von Verkehrs- und Ticketing-Diensten: Websites von Verkehrsträgern, Apps, Buchungs- / Ticketportale, Reiseinformationssysteme. Wichtig: Das Gesetz bezieht sich auf digitale Dienste, nicht unbedingt auf physische Terminals (sofern sie nicht als Produkt unterfallen). -
E-Books & zugehörige Software (§ 1 Abs. 3 Nr. 4)
E-Book-Shops, Web-Plattformen zum Lesen, Reader-Software.
Nicht primär durch Overlay-Tools betroffen
-
Hardwaregeräte wie Computer, E-Reader, Terminals (physische Geräte) – obwohl sie dem BFSG unterliegen, ist ein Overlay (z. B. JavaScript-Overlay auf Web) hier nicht relevant, da es sich um physische Produkte handelt.
Grundlagen & Gesetzlicher Zweck
Zweck (§ 1 Abs. 1)
- Sicherstellung der Barrierefreiheit von bestimmten Produkten & Dienstleistungen.
- Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
- Harmonisierung innerhalb des Binnenmarkts, insbesondere Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/882 („European Accessibility Act“, EAA).
Inkrafttreten / Stichtag
- Ab 28. Juni 2025 gilt für neue bzw. neu bereitgestellte Produkte und Dienstleistungen die Pflicht zur Barrierefreiheit.
- Für bestimmte Dienste bzw. Geräte gibt es Übergangsfristen (§ 38 BFSG).
Betroffene Produkte & Dienstleistungen
Produkte (§ 1 Abs. 2)
Zu den regulierten Produkten gehören:
- Computer, Notebooks, Tablets, Smartphones, Betriebssysteme.
- Selbstbedienungsterminals: z. B. Geldautomaten, Zahlungsterminals, Check-in- oder Fahrausweisautomaten.
- Telekommunkationsgeräte mit interaktivem Leistungsumfang (z. B. Router).
- Audiovisuelle Geräte mit Internet oder digitalen Diensten (z. B. Smart-TVs).
- E-Book-Reader (Hardware).
Dienstleistungen (§ 1 Abs. 3)
Betroffen sind insbesondere:
- Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (Webshops, Buchungsplattformen, Vergleichsportale)
- Bankdienstleistungen für Verbraucher (Online-Banking, Payment, Zahlungsdienste)
- E-Book-Dienste & Software (Shops, Lese-Plattformen)
- Personenbeförderungsdienste (nur die digitalen Elemente, z. B. Ticket-Apps, Buchungsportale)
- Telekommunikationsdienste (Webseiten von Anbietern, Kundenportale, Apps)
Definition von Barrierefreiheit & Zielgruppen
Definition Barrierefreiheit (§ 3 Abs. 1)
Produkte und Dienstleistungen sind barrierefrei, wenn sie für Menschen mit Behinderungen
- auffindbar,
- zugänglich,
- nutzbar sind
in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe.
Menschen mit Behinderungen (§ 2 Nr. 1)
Langfristige (mehr als 6 Monate) körperliche, geistige, seelische oder Sinnesbeeinträchtigungen.
Ausnahmen & Sonderregelungen
Kleinstunternehmen (§ 3 Abs. 3)
- Kleinstunternehmen (weniger als 10 Beschäftigte und Jahresumsatz oder Bilanzsumme ≤ 2 Mio. €) sind bei Dienstleistungen von der Barrierepflicht befreit.
- Nicht ausgenommen sind Kleinstunternehmen, die Produkte herstellen oder in Verkehr bringen – dort gelten die Pflichten.
- Kleinstunternehmen haben Anspruch auf kostenlose Beratung durch die Bundesfachstelle Barrierefreiheit.
Grundlegende Veränderung (§ 16)
Wenn die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen eine grundlegende Veränderung des Produkts oder der Dienstleistung zur Folge hätte (Verlust der "Wesensmerkmale"), kann eine Befreiung beansprucht werden.
Unverhältnismäßige Belastung (§ 17)
Wenn die Barrierefreiheitsanforderungen mit unverhältnismäßiger Belastung verbunden sind, kann ebenfalls eine Ausnahme greifen.
- Wichtig: Falls das Unternehmen öffentliche Fördermittel für Digitalisierung oder Barrierefreiheit erhalten hat, ist eine Berufung auf unverhältnismäßige Belastung nicht zulässig.
- Bei Berufung auf § 17: Meldung an die zuständige Marktüberwachungsbehörde erforderlich.
Pflichten von Dienstleistungsanbietern (§ 14 ff.)
Barrierefreie Erbringung (§ 14 Abs. 1)
Dienstleister müssen sicherstellen, dass ihre Dienstleistung die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllt (also auch technische und organisatorische Maßnahmen ergreifen).
Informationspflicht (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 + Anlage 3)
Dienstleister müssen bestimmte / verpflichtende Informationen über Barrierefreiheit öffentlich bereitstellen:
- Beschreibung der Dienstleistung
- Erläuterung, wie die Dienstleistung erbracht wird
- Wie Barrierefreiheitsanforderungen umgesetzt werden (z. B. durch Normen, technische Spezifikationen)
- Angabe der zuständigen Marktüberwachungsbehörde
- Die Informationen müssen barrierefrei selbst bereitgestellt werden: wahrnehmbar, bedienbar, verständlich, robust.
- Sprachlich sollten sie klar, logisch strukturiert sein, idealerweise einfache Sprache verwenden.
- Spezielle Vorgaben z. B. für Bankdienstleistungen: Sprachniveau maximal B2 laut Verordnung.
Veröffentlichung
Die Informationen müssen gut auffindbar sein, z. B. über einen „Barrierefreiheits“-Link im Footer oder Header der Website / App.
Kontinuierliche Konformitätsüberprüfung (§ 14 Abs. 3)
- Pflicht zur ständigen Sicherstellung der Einhaltung.
- Änderungen (z. B. bei Updates der App oder Website) müssen geprüft und bei Bedarf angepasst werden.
- Bei Nicht-Konformität: Korrekturmaßnahmen + Information der Marktüberwachungsbehörde.
Auskunftspflicht (§ 14 Abs. 5)
Dienstleister müssen auf Verlangen der Marktüberwachungsbehörde Nachweise zur Barrierefreiheit vorlegen und bei Prüfungen kooperieren.
Pflichten bei Produkten (Hersteller, Einführer, Händler – §§ 6–13)
Hersteller (§ 6)
- Barrierefreiheit bei der Produktgestaltung sicherstellen.
- Technische Dokumentation erstellen.
- EU-Konformitätserklärung ausstellen.
- CE-Kennzeichnung anbringen.
- Dokumentation für 5 Jahre aufbewahren.
- Bei Nicht-Konformität: Korrektur + Behördeninformation.
Kennzeichnungspflichten (§ 7)
- Produktidentifikation: Serien-, Typen- oder Chargennummer.
- Herstellerangaben (Name, Adresse).
- Gebrauchsanleitungen: in deutscher Sprache, verständlich, sicher & deutlich formuliert.
Einführer (§ 9)
- Nur konforme Produkte in Europa in Verkehr bringen.
- CE-Kennzeichen kontrollieren.
- Eigene Kontaktdaten auf dem Produkt / der Verpackung angeben (für Rückverfolgbarkeit).
- Deutsche Gebrauchsanleitung sicherstellen.
- Dokumentation ebenfalls 5 Jahre bereithalten.
Händler (§ 11)
- Nur Produkte mit gültiger CE-Kennzeichnung vertreiben.
- Prüfen, dass alle begleitenden Unterlagen (Technische Dokumentation etc.) vorhanden sind.
- Bei Problemen: Hersteller, Einführer oder Behörden informieren.
- Sicherstellung, dass Lagerung oder Transport die Barrierefreiheits-Anforderungen nicht untergräbt (z. B. durch Beschädigung von Bedienhilfen).
Übergangsfristen (§ 38)
Dienstleistungen
Dienstleistungserbringer haben bis 27. Juni 2030, um bestehende Verträge zu erfüllen bzw. anzupassen, wenn die Verträge vor dem 28. Juni 2025 geschlossen wurden.
Selbstbedienungsterminals
Geräte, die bereits vor dem 28. Juni 2025 in Betrieb waren, dürfen genutzt werden bis zum Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzungsdauer, maximal aber 15 Jahre ab Inbetriebnahme. (§ 38 Abs. 2)
Marktüberwachung und Kontrolle
Zuständige Behörden (§§ 20–31)
Die Marktüberwachungsbehörde prüft die Einhaltung des BFSG durch Stichproben, Kontrolle und Beschwerden.
EU-Ebene
Vernetzung mit EU-Behörden, Austausch über Konformitätsfragen / Sanktionierung.
Verbraucherrechte & Verfahren
Informationsrecht (§ 21 Abs. 4)
Verbraucher können verlangen, dass ihnen barrierefrei in wahrnehmbarer Form Auskunft über die Konformität gegeben wird. Auch in Leichter Sprache oder anderen Hilfen möglich.
Kommunikationshilfen (§ 21 Abs. 5)
Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderungen haben Anspruch auf Kommunikationshilfen, z. B. Deutsche Gebärdensprache, lautsprachbegleitende Gebärden usw. Kosten trägt ggf. die Behörde.
Verwaltungsverfahren (§ 32)
- Verbraucher können ein Verwaltungsverfahren gegen ein Unternehmen einleiten.
- Sie können dies auch über anerkannte Verbände oder qualifizierte Einrichtungen tun (Verbandsklagerecht).
Rechtsbehelfe (§ 33)
- Klagemöglichkeit vor Verwaltungsgerichten.
- Verbandsklage möglich (auch ohne eigene Betroffenheit).
Schlichtung (§ 34)
Alternativ oder ergänzend möglich: ein Schlichtungsverfahren (nach BGG) mit Beteiligung der Marktüberwachungsbehörde.
Sanktionen & Risiken
Bußgelder (§ 37)
- Bis zu 100.000 € bei Nicht-Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen (Produkte oder Dienstleistungen).
- Bis zu 10.000 € bei Verstößen gegen Informationspflichten, fehlende Auskünfte oder Kennzeichnung.
Weitere Risiken
- Verwaltungsverfahren + damit verbundene Kosten
- Öffentliches Bekanntwerden von Verstößen (Rufschädigung) § 26 Abs. 3 BFSG
- Wettbewerbsnachteile, z. B. wenn Mitbewerber auf Konformität setzen
- Verbandsklagen durch Interessenverbände
Unterstützung & Beratung
Bundesfachstelle Barrierefreiheit (§ 15)
- Zuständig für Beratung, vor allem Kleinstunternehmen.
- Veröffentlichungen mit Leitlinien, Webinare etc. zur praktischen Umsetzung.
Leitlinien
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat Leitlinien zur Anwendung des BFSG veröffentlicht, die praktische und technische Hilfestellungen bieten – insbesondere für kleine Unternehmen.
Technische Standards / Normen
- Das BFSG verweist auf harmonisierte Normen (§ 4) und technische Spezifikationen (§ 2 Nr. 20).
- EN 301 549 ist die zentrale Norm für IKT-Produkte (inklusive Web, Software, Betriebssysteme).
- Für barrierefreie Dokumente (PDF) ist zusätzlich der Standard PDF/UA (ISO 14289-1) relevant.
- Wenn ein Produkt / eine Dienstleistung diesen Normen oder Spezifikationen entspricht, besteht eine Konformitätsvermutung (§§ 4, 5 BFSG) – das heißt, der Nachweis der Barrierefreiheit ist einfacher, wenn man diese etablierten Standards nutzt.